Künstliche Intelligenz für Verletzungsprognosen in Echtzeit

Fraunhofer EMI mit Fokus auf VRU-Pkw-Kollisionssimulationen

Ziel des Projekts ATTENTION ist es, eine Methode zur Echtzeit-Verletzungsprognose von besonders gefährdeten Verkehrsteilnehmenden (Vulnerable Road User, VRU), wie Fußgängern oder Radfahrenden, zu entwickeln. Hierzu werden datengetriebene Verfahren genutzt, um aus fahrzeuggebundenen Videodaten und virtuellen Tests mithilfe digitaler Menschmodelle ein situationsspezifisches Verletzungsrisiko zu bestimmen. Prospektiv ermöglicht die Verletzungsprognose durch Strategien der Risikominimierung des automatisierten Fahrzeugs einen sowohl sicheren als auch effizienten Verkehr.

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Beispiel einer Kollisionssimulation zwischen einem muskelgetriebenen Fahrradfahrer und einem Fahrzeugmodell.

Multimodaler Verkehr und menschliche Individualität als große Herausforderungen für das autonome Fahren

Die urbane Mobilität ist in vielen deutschen Innenstädten geprägt durch die Mehrfachnutzung begrenzter und enger Verkehrsflächen sowie eine Vielzahl unterschiedlicher Verkehrsteilnehmender, die in ihrer Gesamtheit den multimodalen Verkehr darstellen. Eine zentrale Zukunftsfrage für Städte und Mobilitätsdienstleister ist die effiziente und gleichzeitig sichere Nutzung geteilter öffentlicher Räume. Beteiligte Verkehrsteilnehmende unterscheiden sich sehr stark hinsichtlich Geschwindigkeit, Manövrierfähigkeit und Verletzbarkeit. Die großflächige Etablierung des automatisierten Verkehrs verspricht für deren Interaktion eine Verringerung der Verkehrsunfälle und tödlichen Verletzungen im Straßenverkehr. Dennoch stellen komplexe innerstädtische Szenarien, ungerichtete Verkehrsströme und menschliche Individualität die zunehmende Automatisierung vor große Herausforderungen.

 

Einordnung in bestehende Sicherheitskonzepte

Kollisionen zwischen Fahrzeugen und besonders gefährdeten Verkehrsteilnehmenden führen nach wie vor zu einer Vielzahl von Unfalltoten. Die Anzahl der Verkehrsunfälle von Fahrradfahrenden hat seit 2010 in der EU nicht abgenommen und in Deutschland sogar zugenommen. Auch im multimodalen Verkehr der Zukunft können Kollisionen zwischen Fahrzeugen und VRUs aufgrund der zuvor genannten Aspekte, wie der menschlichen Individualität, nicht ausgeschlossen werden.

In Bezug auf die Verkehrssicherheit von VRUs muss es das oberste Ziel sein, einen Unfall bestmöglich zu vermeiden. Im Fahrzeug implementierte Sensorik und Kommunikationssysteme werden bereits genutzt, um potenzielle Kollisionen frühzeitig zu identifizieren und beispielsweise über Assistenzsysteme den Sicherheitsabstand anzupassen und mit aktiven Brems- und Lenksystemen Kollisionen zu vermeiden. Doch was, wenn der Unfall unvermeidbar ist?

Wenn die »Vision Zero« (keine Verkehrstoten mehr ab 2050) realistisch adressiert werden soll, muss akzeptiert werden, dass nicht alle Unfälle vermeidbar sind und dass der aktuelle und zukünftige Verkehr daher beispielsweise durch menschliche Individualität von einem gewissen Unsicherheitsfaktor begleitet wird. Folglich müssen neben Strategien der Unfallvermeidung auch die Unfallfolgenminderung und damit eine Verletzungsreduzierung berücksichtigt werden, womit sich die Frage stellt: Was kann im Fall einer unvermeidbaren Kollision technisch unternommen werden, um das situationsspezifische Verletzungsrisiko besonders gefährdeter Verkehrsteilnehmender zu senken? Diese Lücke adressiert ATTENTION in einer Proof-of-Concept-Studie.

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Visualisierung der VRU- und Objekterkennung in hochautomatisierten Fahrzeugen.

Konzept und Ziel des Projekts

Mit dem Ziel der situationsspezifischen Vorhersage von Verletzungsrisiken werden im Projekt verschiedene Datenbanken aufgebaut, Künstliche-Intelligenz(KI)-Verfahren angewandt und miteinander verknüpft.

Zu Beginn des Projekts werden fahrzeuggebundene Videodaten von realen Fahrzeug-VRU-Kollisionen ausgewertet. In diesem Rahmen wurden Methoden zur biomechanischen und KI-basierten Bewegungsprädiktion angewandt, um eine VRU-Positions- und Bewegungsdatenbank aufzubauen. Aus diesen Daten werden im nächsten Schritt die häufigsten Prä-Impaktpositionen des Fußgängers und Radfahrers extrahiert und in die Finite-Elemente(FE)-Umgebung überführt, indem das im Projekt verwendete FE-Menschmodell (Human Body Model, HBM) entsprechend positioniert wird. Diese Positionen umfassen beispielsweise eine mittlere Radfahrerhaltung und diverse Fußgänger-Abwehrhaltungen, die in den ausgewerteten Videodaten entsprechend beobachtet wurden. Zudem wird ein Muskelmodell mit positionsspezifischen Muskelaktivitäten in das Menschmodell integriert, um sich dem realen Kollisionsverhalten von VRUs bestmöglich anzunähern.

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Technische Einordung der ATTENTION-Methode in bestehende Autonomous-Driving-Systemkonzepte.

Das positionierte und mit Muskeln ausgestattete HBM wird anschließend gemeinsam mit einem FE-Fahrrad- und Fahrzeugmodell in einem virtuellen Kollisionsszenario zusammengeführt, um nach Definitionen von Randbedingungen (beispielsweise Anfangsgeschwindigkeit und Aufprallwinkel) eine Fahrzeug-VRU-Kollision im FE-Code numerisch berechnen zu können. Durch eine vorherige Instrumentierung des Menschmodells können verletzungsrelevante Informationen wie Dehnungen oder Beschleunigungen für bestimmte Körperregionen aus der Simulation extrahiert werden. Dies ermöglicht es, Verletzungsrisiken situationsspezifisch über die FE-Simulation für verschiedenste Kollisionsszenarien berechnen zu können. Mit dem Ziel der datengetriebenen Verletzungsprognose, wird über eine Vielzahl von Fahrzeug-VRU-Kollisionssimulationen eine Verletzungsdatenbank aufgebaut. Einzelne virtuelle Kollisionen werden mit Realdaten der Bosch-Unfallforschung abgeglichen und auf Plausibilität geprüft, wodurch das Vertrauen in die simulationsbasierte Verletzungsprognose erhöht wird. Darüber hinaus werden die realen Unfalldaten verwendet, um die Grenzen des Parameterraums (zum Beispiel zulässige Kombinationen von Relativgeschwindigkeiten und Kollisionswinkeln) für die Kollisionssimulationen festzulegen.

Die mithilfe von FE-Simulationen erzeugten synthetischen Datensätze werden im nächsten Schritt genutzt, um verschiedene KI-Modelle zu trainieren. Dadurch soll es möglich sein, auch für nicht-simulierte Parameterkombinationen ein plausibles Verletzungsrisiko zu prognostizieren, wofür andernfalls eine zeitintensive FE-Simulation notwendig gewesen wäre. Das ambitionierte Ziel des Projekts ist es, dieses situationsspezifische Verletzungsrisiko möglichst in Echtzeit vorherzusagen.

Im abschließenden Schritt des Projekts wird die KI-basierte Vorhersage von Verletzungsrisiken in einer virtuellen Fahrumgebung demonstrativ getestet. Im Detail werden Methoden zur Bewegungsvorhersage und zur KI-basierten Verletzungsrisikoprognose als aktives Sicherheitstool in ein Fahrzeug der virtuellen Fahrumgebung integriert. Das entsprechende VRU-Modell wird durch eine virtuelle Kamera erkannt und seine weitere Bewegung bis zum Kollisionszeitpunkt prognostiziert, wobei der Abstand zwischen Fahrzeug und VRU, der Aufprallwinkel und die Relativgeschwindigkeiten berücksichtigt werden. Die Brems- und Lenkmaßnahmen werden basierend auf diesen Informationen anschließend so angepasst, dass das VRU-Verletzungsrisiko im verbleibenden Zeitraum bestmöglich reduziert wird. Welche noch erreichbare Parameterkombination das prognostizierte Verletzungsrisiko des VRU bestmöglich reduziert, leitet die KI aus dem vorherigen Training mit den synthetischen Daten der Kollisionssimulation ab.

 

Fraunhofer EMI mit Fokus auf VRU-Pkw-Kollisionssimulationen

Das Fraunhofer EMI wird im Rahmen des Projekts ATTENTION zum Aufbau der Kollisions- und Verletzungsdatenbank beitragen und ist vertreten durch die Gruppen Human Body Dynamics und Digital Engineering. Dabei werden verschiedene Kompetenzen der beiden Gruppen kombiniert. Einerseits müssen die einzelnen FE-Modelle entsprechend für die Datengenerierung und Extraktion der biomechanischen Verletzungsinformationen vorbereitet werden. Zudem müssen einzelne Simulationen beispielhaft mit Realunfalldaten verglichen werden mit dem Ziel, das Vertrauen in die generierten Simulationsdaten zu erhöhen. Um eine Vielzahl an Fahrzeug-VRU-Kollisionssimulationen erzeugen zu können, die auch in realen Unfalldaten beobachtet werden, müssen die Fahrzeug und VRU FE-Modelle zudem beliebig kombinierbar sein, um beliebige Parameterkombinationen (bspw. des Kollisionswinkel und der VRU-Position vor der Stoßstange) zu ermöglichen. Um den großen Datenraum an möglichen Kollisionsszenarien möglichst effizient abzudecken, ist zudem die Entwicklung und Anwendung von Methoden zur adaptiven Datengenerierung vorteilhaft. Beim adaptiven Sampling bleibt die Datenmenge die gleiche, nur die Informationsdichte ist am Ende höher. Dadurch können trotz der langen Rechenzeiten der FE-Kollisionsrechnungen ausreichende Datenmengen generiert werden, um entsprechende KI-Modelle mit dem Ziel der Verletzungsprognose für diesen spezifischen Anwendungsfall des Frontalaufpralls trainieren zu können. Basierend auf der Expertise in den Bereichen Biomechanik und Menschmodelle sowie datengetriebene Methoden und effiziente Generierung simulationsbasierter Trainingsdaten, baut das Fraunhofer EMI im Rahmen des ATTENTION-Projekts eine Kollisions- und Verletzungsdatenbank auf.

Das Projekt ATTENTION endet im Juni 2024 und wird im Rahmen des Forschungsprogramms »Neue Fahrzeug- und Systemtechnologien« seitens des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz gefördert.