E-Scooter-Unfälle – Dummys und Menschmodelle im Einsatz

E-Scooter-Unfälle – Dummys und Menschmodelle im Einsatz

Untersuchung von Unfallparametern bei E-Scooter-Alleinunfällen mit teilweise überraschenden Ergebnissen

© Fraunhofer EMI
Konzeptskizze zum Aufbau eines inversen Crashversuchs. Der Crashschlitten fährt gegen den stehenden Fußgängerdummy auf dem E-Scooter (hier: visualisiert durch ein numerisches Modell).
© Fraunhofer IWM
Longitudinalschnitt durch das Helmmodell. Per Reverse Engineering modellierten und charakterisierten die Kollegen vom Fraunhofer IWM die Geometrie und die Materialdaten eines aktuellen Fahrradhelms.
© Fraunhofer EMI
Vergleich verschiedener Verletzungskriterien. Während das HIC (links) ausschließlich translatorische Beschleunigungen auswertet und eine Korrelation mit steigender Scootergeschwindigkeit deutlich erkennbar ist, wertet das BrIC (rechts) ausschließlich rotatorische Beschleunigen im Kopfinneren aus.

Die Fahrt mit einem E-Scooter ist nicht ungefährlich. Die Unfallstatistik 2021 des Statistischen Bundesamts hat gezeigt, dass fast die Hälfte aller Unfälle in Deutschland mit Personenschaden durch Alleinunfälle abgebildet wird. Grund genug, sich Unfälle dieser noch jungen Gruppe verletzungsgefährdeter Verkehrsteilnehmender (VRU) an einem konkreten Szenario genauer anzusehen.

 

In einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit dem Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM wurden am Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik, Ernst-Mach-Institut, EMI, Kollisionen von E-Scooter-Fahrenden mit Bordsteinkanten experimentell und simulativ nachgestellt. Besonderes Interesse galt dabei der Frage, ob bei Stürzen, die durch dieses spezielle Szenario entstehen, bestimmte Körperregionen gefährdet sind und ob und in welchem Maße man sich hierbei durch Protektoren schützen kann. Während sich die Kollegen am IWM primär auf werkstoffwissenschaftliche Themen rund um die in dieser Studie untersuchten Helme und Knieprotektoren konzentrierten, widmeten sich die Kollegen am EMI dem Einsatz des Fußgängerdummys PRIMUS in Experimenten am Crashzentrum der Fraunhofer-Gesellschaft und des Menschmodells THUMS in Simulationen in der Gruppe Human Body Dynamics. Gemeinsames Ziel war es, den Unfallvorgang selbst sowohl experimentell als auch numerisch nachstellen und bewerten zu können.

 

Testumfang und Simulationsmatrix

Für die Simulation des Unfalls wurden Teilmodelle für den E-Scooter, den Helm, die Knieprotektoren und die Bordsteinkante erstellt. Zentraler Bestandteil der Simulationen war jedoch der menschliche Fahrer selbst, dessen Körper ebenfalls über ein Teilmodell abgebildet wurde Das Menschmodell wurde in Vorabsimulationen mit Protektoren ausgestattet, in die richtige Körperhaltung bewegt und auf dem Scooter eingestanden, damit zum Zeitpunkt des Impakts die richtige Kontaktkraft zwischen E-Scooter und Fahrer wirkt. Die Crashstudie umfasste Kollisionsrechnungen bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten (10, 20 und 30 Kilometer pro Stunde) und unterschiedlichen Aufprallwinkeln mit der Bordsteinkante (60 Grad und 90 Grad zur Fahrtrichtung). Wie im Experiment auch wurden in den Simulationen Beschleunigungsprofile im Inneren des Kopfs und im Inneren des Knies aufgezeichnet, die im Anschluss an die Berechnungen mithilfe verschiedener Verletzungskriterien ausgewertet wurden.

 

Kinematik des Sturzes

Der Sturz selbst lief in allen untersuchten Szenarien verhältnismäßig gleich ab. Bei einem Aufprallwinkel von 90 Grad zur Fahrtrichtung blockiert das Vorderrad des E-Scooters zwischen Bordsteinkante und Gefährt. Der E-Scooter wirkt aufgrund seiner Massenträgheit hier wie ein Hebel gegenüber dem Fahrer und katapultiert diesen je nach Konfiguration unterschiedlich stark in die Höhe. Bei einem Aufprallwinkel von 60 Grad tritt dieser Effekt weniger ausgeprägt auf. Hier rutscht das Vorderrad an der Bordsteinkante entlang, der Lenker verkantet seitlich und der Scooter klappt nach unten weg, was den Sturz für den Fahrer jedoch nur marginal glimpflicher ablaufen lässt. Die Dauer des Sturzes beträgt je nach Geschwindigkeit etwa zwischen einer halben und einer Dreiviertelsekunde, die Sturzweite zwischen zwei und fünf Metern.

© Fraunhofer EMI
E-Scooter-Modell. Dem Xiaomi M365 nachempfundenes E-Scooter-Modell mit am Original validierter Massenverteilung, rotierbaren Rollen und drehbarer Lenkstange.

Relation zu Prüfnormen

Die Kopfaufprallgeschwindigkeiten lagen bei allen getesteten Konfigurationen über den Geschwindigkeiten des Scooters. Das ist insbesondere deshalb interessant, da die durch den Unfall über die Simulation prognostizierten Kopfaufprallgeschwindigkeiten da beginnen, wo die für die Abnahme von Fahrradhelmen durch die deutsche Prüfnorm DIN EN 1078 vorgeschriebenen Impaktorgeschwindigkeiten aufhören, nämlich bei etwa 5,4 Metern pro Sekunde. Das ist eine wichtige Erkenntnis, die sich Helmhersteller beim Design ihrer Produkte zu eigen machen können. Darüber hinaus können die Kontaktstellen am Helm relativ genau ermittelt werden, da die Simulationen die Trajektorien des Fahrers vor dem Aufprall auf dem Boden beschreiben können, was gegenüber standardisierten Prüfnormen ebenfalls einen erheblichen Vorteil hinsichtlich der Dimensionierung und Gestaltung des Helms darstellt.

 

Einschränkungen und Diskussion

Eine Limitation der bisherigen Untersuchungen war, dass sowohl Menschmodell als auch Dummy als methodische Werkzeuge während des Sturzes absolut reaktionslos fallen. Reflexbewegungen, wie man sie in der Realität erwarten könnte und die die Verletzungsschwere reduzieren würden, konnten nicht abgebildet werden. Erfreulicherweise konnte mit Ausnahme von einem Szenario in allen anderen Szenarien nachgewiesen werden, dass die maximalen translatorischen Beschleunigungen auf den Kopf durch den Einsatz eines Helms um deutliche 51 Prozent bis 72 Prozent reduziert werden konnten. Die Simulationen konnten jedoch auch zeigen, dass die untersuchten Geschwindigkeits- und Winkeländerungen zu unterschiedlichen Lastbedingungen führen, so dass aus einem Verletzungskriterium allein keine uneingeschränkt allgemeingültige Aussage abgeleitet werden kann. In der Quintessenz kann dies durchaus zu einem Dilemma führen: Was nützt der verunfallenden Person die Prognose, dass sie wegen eines getragenen Helms einerseits (gemäß Head Injury Criterion, HIC) sehr wahrscheinlich keinen Schädelbasisbruch erleiden wird, andererseits (gemäß Brain Injury Criterion, BrIC) aber so oder so erheblichen rotatorischen Beschleunigungsanteilen auf den Kopf ausgesetzt werden würde, die möglicherweise bleibende Hirnverletzungen zur Folge hätten?

© Fraunhofer EMI
Sturz eines E-Scooter-Fahrers ohne Schutzausrüstung. Die Bildfolge visualisiert den Sturz eines E-Scooter-Fahrers bei einer Kollisionsgeschwindigkeit von 30 Kilometern pro Stunde gegen eine um 60 Grad zur Fahrtrichtung geneigten Bordsteinkante (Bildabstand etwa 100 Millisekunden).

Erkenntnis und mögliches Folgeprojekt

Gewiss ist, dass alle untersuchten Szenarien einen Mehrwert dahingehend geliefert haben, als dass aus realen Unfallszenarien die bisher geltenden Prüfvorschriften für Protektoren selbst unter die Lupe genommen werden können, da die realen Belastungsrandbedingungen und Belastungsorte aus dem Unfallvorgang selbst relativ genau abgeleitet werden können und statistisch erfassbar werden. Während die experimentelle Testreihe im Crashzentrum derzeit noch nicht abgeschlossen ist, konnten die bisher bereits vorliegenden Versuchsergebnisse die numerischen Prognosen im Wesentlichen bestätigen. Die Limitation der bisher noch fehlenden Reflexbewegung der oberen Extremitäten betrifft sowohl Experiment als auch Simulation und soll daher Gegenstand eines möglichen Folgeprojekts werden.

 

Ausblick und Fazit

Bis dahin sei E-Scooter-Fahrenden geraten, die drei laut Statistischem Bundesamt häufigsten Fehler bei Unfällen mit Personenschaden möglichst nicht zu begehen, das heißt, positiv formuliert: Es ist ratsam, besser die richtige Straßenverkehrsfläche zu benutzen, mit den Gegebenheiten angemessener Geschwindigkeit zu fahren und nur nüchtern am Straßenverkehr teilzunehmen! Ein Helm kann darüber hinaus zusätzlichen Schutz bieten, sollte aber nicht als hinreichende Bedingung für vollständigen Schutz missinterpretiert werden.

© Fraunhofer EMI
Crashversuch mit dem Fußgängerdummy PRIMUS von CTS. Die Bildfolge visualisiert den inversen Crash bei einer Schlittengeschwindigkeit von 20 Kilometern pro Stunde und einer um 90 Grad zu Bewegungsrichtung gedrehten Aufprallkante (Bildabstand etwa 100 Millisekunden).