Transparenter polyvalenter Schutz – Fortschritt durch modernste Messtechnik und dynamische Materialcharakterisierung

Transparenter polyvalenter Schutz – Fortschritt durch modernste Messtechnik und dynamische Materialcharakterisierung

Abbildung 1: Massive Schädigung und Verformung eines Glas-Polycarbonat-Laminats nach Beschuss mit splitterdarstellendem Geschoss.

Bei leichten und geschützten Panzerfahrzeugen gehören die transparenten Bereiche zu den kritischsten Komponenten der Panzerung. Damit die Insassen dieser gepanzerten Fahrzeuge lückenlos geschütztsind, ist es notwendig, dass die transparenten Bereiche möglichst das gleiche Schutzniveau aufweisen wie die nicht durchsichtigen Teile der Panzerung. Typische transparente Panzerungen bestehen aus mehreren Glas- und Kunststoffschichten, die durch Klebefolien zu einem Laminat verbunden werden. Da die Anforderungen an die Mehrfachtreffer-
sicherheit bei konventionellen Verbundsicherheitsgläsern zu hohen Flächengewichten und sehr dicken Panzerglasscheiben führen, muss das Gewicht der transparenten Panzerungen deutlich reduziert werden, um auch auf zukünftige Bedrohungen reagieren zu können. Dabei ist es wichtig, dass die transparenten Panzerungen polyvalent ausgelegt werden, d. h., dass sie Schutz gegen unterschiedliche Bedrohungen wieInfanteriemunition, Splitter und explosiv geformte 
Projektile (Explosively Formed Projectiles, EFPs), die bei der Detonation von IEDs (Improvised Explosive Devices) entstehen, bieten. Abbildung 1 veranschaulicht die massive Schädigung der Glasschichten und starke Verformung der rückseitigen Polycarbonatschicht eines Verbundsicher-
heitsglases  nach dem Impakt eines 54 Gramm schweren splitterdarstellenden Geschosses mit einer Geschwindigkeit von 1090 Metern pro Sekunde.

Die Auslegung solcher Verbundgläser für den ballistischen Schutz basiert zzt. noch auf einer überwiegend empirischen Vorgehensweise. In Anbetracht der großen Zahl der Parameter, welche die Schutzwirkung beeinflussen, wie z. B. die Dicke und Art der Keramik- und Glasschichten, der Klebeschichten und des Kunststoffbackings, liegt die Notwendigkeit für die Entwicklung von Werkzeugen zur systematischen Optimierung auf der Hand.

© Fraunhofer EMI
Abbildung 2: Auswahl von acht Hochgeschwindigkeitsaufnahmen des Schädigungsverlaufs in einem Laminat mit acht Glasscheiben bei Beschuss mit einem IED-Surrogat.

Am Ernst-Mach-Institut wurden in den letzten Jahren Visualisierungsverfahren kontinuierlich verbessert und Methoden entwickelt, die es ermöglichen, denSchädigungsverlauf  in einzelnen Schichten einer transparenten Panzerung zu beobachten und gleichzeitig die Verformung 
quantitativ zu bestimmen. Durch das Verwenden von Surrogatprojektilen, die aus einer Rohrwaffe beschleunigt und mittels einer hochwertigen optischen Diagnostik untersucht werden können, ist es gelungen, die Wechselwirkungsmechanismen bei der Eindringung von EFPs aus IEDs zu studieren. Abbildung 2 zeigt eine Auswahl von Hochgeschwindigkeitsaufnahmen aus einem Versuch, bei dem ein EFP-Surrogat mit einer Geschwindigkeit von mehr als 1200 Metern pro Sekunde auf ein Laminat mit acht Glasschichten traf. Die intakten Glasscheiben des Laminats erscheinen hell in den Aufnahmen. Mit fortschreitender Schädigung verdunkeln sich diese Bereiche, da ein Teil des Lichts an den Rissflächen reflektiert wird und nicht mehr in die Kamera fällt.

Die Hochgeschwindigkeitsaufnahmen zeigen, dass die Schädigung in allen Glasschichten innerhalb der ersten 25 Mikrosekunden nach dem Aufschlag des Projektils einsetzt. Die ersten fünf Schichten werden während dieses Zeitintervalls im Sichtbereich der Kamera bereits so stark geschädigt, dass nahezu kein Licht mehr zur Kamera durchdringt. Nur in den ersten beiden Glasschichten setzt die Schädigung allein an der Beschussseite ein. Ab der dritten Glasschicht beginnt die Schädigung immer zuerst an der Rückseite der Platten. Die Analyse der Aufnahmen hat gezeigt, dass der Beginn der Schädigung an der Rückseite der Glasplatten im Zusammenhang mit dem Eintreffen und der Reflexion der Transversalwelle an der Rückseite der jeweiligen 
Glasplatte steht. Die Schutzwirkung der Laminate kann erhöht werden, wenn der Fortschritt der Schädigung durch geeignete Front- oder Zwischenschichten verhindert oder verzögert werden kann.

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Abbildung 3: Hochgeschwindigkeitsaufnahmen der Projektileindringung in Glaslaminat mit Frontschicht aus transparenter Al2O3-Keramik.

Um einen hohen Schutz gegen Infanteriemunition mit Hartkern (Stahl oder Wolframcarbid) zu erreichen, kann eine harte Frontschicht aus transparenter Keramik eingesetzt werden, die eine Erosion oder Fragmentierung des Projektilkerns bewirkt. Den Effekt einer transparenten Aluminiumoxid(Al2O3)-Keramikschicht veranschaulichen die Hochgeschwindigkeitsaufnahmen in Abbildung 3.

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Abbildung 4: Hochgeschwindigkeitsaufnahmen des Schädigungsverlaufs in einem Glaslaminat mit Spinellfrontschicht bei Beschuss mit einem 7,62-Millimeter-Projektil mit Hartmetallkern.

Unmittelbar nach dem Auftreffen des Projektils entstehen Risse in der Keramik, die sich mit einer Geschwindigkeit von mehr als 4000 Metern pro Sekunde in radialer Richtung ausbreiten. Bereits nach vier Mikrosekunden erkennt man, wie Material des Stahlkernprojektils an der Oberfläche der Keramik in radialer Richtung abfließt.

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Abbildung 5: Vergleich der Schädigungsentwicklung im Experiment mit der simulierten Weg-Zeit-Kurve der Projektilspitze.

Abbildung 4 veranschaulicht den Schädigungsverlauf in einem Glaslaminat mit einer vier Millimeter starken Frontschicht aus Spinellkeramik bei Beschuss mit einem Projektil mit Hartmetallkern, Abbildung 5 stellt die zugehörige Weg-Zeit-Kurve des Schädigungsverlaufs im Experiment und die in einer Simulation berechnete Weg-Zeit-Kurve der Projektilspitze (grüne Linie) dar. 

Zusätzlich wird die Ausbreitungsrichtung der experimentellen Schädigungsfront durch Pfeile angedeutet. 

Ungefähr acht Mikrosekunden nach dem Aufschlag hatte der Wolframcarbidkern die Spinellplatte durchdrungen. In der ersten Glasschicht (G1) setzte die Schädigung sowohl von der Plattenrückseite als auch von der Kontaktfläche zur Spinellplatte ein. Besonders hervorzuheben ist die zeitliche Korrelation zwischen dem Schädigungsbeginn in Schussrichtung und dem Eintreffen des Projektils in den ersten drei Glasschichten. Das lässt darauf schließen, dass in diesen Fällen die Schädigung direkt durch das Auftreffen des Projektils initiiert wurde. Hingegen begann die letzte Glasschicht aufgrund von Spannungen, welche durch die Plattenbiegung an der Rückseite induziert wurden, ohne sichtbare Korrelation zur Projektilposition zu versagen.

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Abbildung 6: Mittels PDV gemessene Geschwindigkeitsverläufe der Impaktorplatten aus vier Versuchen (links). Durch die Integration der Geschwindigkeitssignale wird erkennbar, dass die Projektilgeschwindigkeiten über eine Strecke von mehr als fünf Metern präzise bestimmt werden konnten (rechts).

Da einerseits im ballistischen Experiment immer nur ein Teil der physikalischen Größen messtechnisch erfasst werden kann und andererseits durch die hohe Zahl an Parametern bei den Zielaufbauten eine rein experimentelle Optimierung zu aufwendig wäre, ist die numerische 
Simulation ein wichtiges Werkzeug zur Verbesserung des Verständnisses der Prozesse und der Schutzanordnungen. Die Basis für ein prognosefähiges Materialmodell bilden die Daten aus Experimenten zur Charakterisierung des Materials bei dynamischen Belastungen, welche die beim Impakt eines Projektils auftretenden Drücke, Dehnungen und Dehnraten widerspiegeln.

Beim Beschuss von transparenten Schutzanordnungen können im Glas starke Belastungen im
Gigapascalbereich und hohe Dehnraten auftreten. Deshalb ist eine Materialcharakterisierung
mittels rein statischer Messanordnungen unzureichend. Eine Möglichkeit, das Material bis in den erforderlichen hochdynamischen Bereich kontrolliert zu belasten, bietet der sogenannte Planarplattenimpakt. Dabei werden im zu untersuchenden Material Stoßwellen erzeugt und mithilfe eines hochauflösenden interferometrischen Verfahrens aufgezeichnet. Die Analyse dieser Geschwindigkeitssignale gibt Aufschluss über charakteristische Materialeigenschaften, die zur Erstellung der Zustandsgleichung benötigt werden, und über die Spallationsfestigkeit.

Die kontrollierte Materialbelastung im hochdynamischen Bereich stellt hohe Anforderungen an die Beschleunigeranlage und die Messtechnik. Insbesondere erfordern die im Material induzierten Geschwindigkeitsanstiege eine Messauflösung von wenigen Nanosekunden. Am Ernst-Mach-Institut wird dies mittels Laserinterferometern (PDV und VISAR) realisiert, die den Dopplereffekt nutzen.

Darüber hinaus ist es erforderlich, die Auftreffgeschwindigkeit der Impaktorplatte möglichst genau zu bestimmen. Aus diesem Grund erfolgt die Messung ebenfalls hochaufgelöst per Interferometer. Dies ermöglicht nicht nur die präzise Messung der Auftreffgeschwindigkeit, sondern erlaubt zusätzlich, den zeitabhängigen Beschleunigungsvorgang des Projektils über eine Strecke von mehr als fünf Metern im Rohr des Beschleunigers zu messen. Abbildung 6 zeigt einen solchen Beschleunigungsverlauf für vier verschiedene Experimente. Man erkennt, dass die Signale trotz der unterschiedlichen Projektilmassen sehr gut reproduzierbar sind und die Auftreffgeschwindigkeiten (Aufschlagzeitpunkt t = 0 Millisekunden) in allen vier Durchgängen bei 1700 Metern pro Sekunde lag.

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Abbildung 7: Freie Oberflächengeschwindigkeit auf der Rückseite einer Glasplatte, die von einer Aluminiumplatte mit 1700 bzw. 1080 Metern pro Sekunde beaufschlagt wurde.

Abbildung 7 zeigt die gemessenen Geschwindigkeitssignale aus zwei Experimenten zur Charakterisierung von Glas. Dabei wurde jeweils eine Kalknatronglasplatte mit einer Aluminiumplatte beschossen, deren Auftreffgeschwindigkeit in dem einen Fall 1700 Meter
pro Sekunde und im anderen Fall 1080 Meter pro Sekunde betrug. Das Messsignal zeigt die Geschwindigkeit der freien Oberfläche auf der Rückseite der Glasplatte. Damit die Signale besser miteinander verglichen werden können, wurde der Nullzeitpunkt der zweiten Messung entsprechend verschoben. Beim Aufschlag werden sowohl im Glas als auch im Aluminium ebene Stoßwellen erzeugt, die sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten fortpflanzen. Die elastische Welle bewegt sich am schnellsten, nämlich mit der longitudinalen Schallgeschwindigkeit clong von 5740 Metern pro Sekunde, welche für das Kalknatronglas durch eine Ultraschallmessung bestimmt wurde. Sie erreicht die Targetrückseite nach 12,5 Mikrosekunden und führt zu einem steilen Anstieg des gemessenen Geschwindigkeitssignals.

 

 

In den darauffolgenden 0,5 Mikrosekunden gelangen weitere Wellenfronten zum Messpunkt, und es findet ein kontinuierlicher Geschwindigkeitsanstieg statt. Für die Analyse dieses gesamten Belastungspfads wird eine inkrementelle Auswertung angewendet. Dazu werden die Erhaltungssätze für Masse, Impuls und Energie, die sogenannten Rankine-Hugoniot-Gleichungen, in differenzieller Form ausgewertet (siehe Formlen links).

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Abbildung 8: Links: Vergleich von Experiment und Literatur für den Belastungspfad von Kalknatronglas bei unterschiedlichen Endbelastungszuständen. Rechts: Vergleich des experimentell ermittelten Belastungspfads mit aus der Literatur entnommenen Endzuständen.

Hierbei steht ε für die eindimensionale Dehnung und σ für die longitudinale Spannung in Stoßwellenrichtung, auch Hugoniot-Spannung genannt. Diese Werte berechnen sich aus der gemessenen freien Oberflächengeschwindigkeit ufs, der berechneten, zeitabhängigen Stoßwellengeschwindigkeit Us und der Anfangsdichte ρ0. Beim Auftragen der Spannung gegen die Partikelgeschwindigkeit up = ufs ⁄ 2 ergibt sich ein linearer Zusammenhang, der gut mit vergleichbaren Ergebnissen aus der Literatur übereinstimmt (siehe Abbildung 8, links). Die dynamische Elastizitätsgrenze bei eindimensionaler Dehnung, das sogenannte HEL, ist ein wichtiger Simulationsparameter. Bei Belastungen unterhalb des HEL verhält sich das Glas elastisch. In diesem Bereich ist der Anstieg der Spannung mit der Partikelgeschwindigkeit 
unabhängig vom endgültigen Belastungszustand. Oberhalb des HEL beginnen die Kurven voneinander abzuweichen. Abbildung 8 (rechts) zeigt eine gute Übereinstimmung mit dem Literaturwert von knapp sechs Gigapascal, der in einen kommerziellen Code implementiert 
wurde. Die Versuchsgeometrie wurde so gewählt, dass bei der Entlastung Informationen über die Zugfestigkeit des Glases gewonnen werden können. Dazu müssen zum einen die Oberflächen der Projektil- und Targetplatte frei sein, damit die beim Aufschlag induzierten Druckwellen nach dem Durchlaufen des Materials als Entlastungswellen reflektiert werden. Zum anderen wird ein passendes Verhältnis der Plattendicken benötigt, so dass sich die Entlastungswellen innerhalb der Glasprobe überlagern und dadurch zur gewünschten Zugspannung führen. Wenn diese Spannung die Zugfestigkeit des Materials übersteigt, entsteht eine sogenannte Spallationsebene.

Im Messsignal spiegelt sich dieser Vorgang durch einen Geschwindigkeitsabfall, gefolgt von einem erneuten Anstieg, wider. Bei den durchgeführten Experimenten kann dies nach etwa 13,6 Mikrosekunden beobachtet werden (siehe Abbildung 7). Obwohl das Spallationssignal bei beiden Impaktgeschwindigkeiten simultan eintritt, zeigen sich deutliche Unterschiede im qualitativen Verlauf der Entlastung. Eine mögliche Erklärung hierfür könnte das spröde Verhalten des Glases sein, das den Abplatzvorgang nur bedingt reproduzierbar macht. Es wäre allerdings ebenfalls denkbar, dass die deutlich unterschiedlichen Belastungsstärken zu einem anderen Verhalten führen, da die Glasfestigkeit sehr stark vom Druck abhängt. Diese Frage kann allerdings durch zusätzliche Versuche bei anderen Belastungen geklärt werden.

Als Grundlage für die Modellierung der Materialien in transparenten Panzerungen ist die Charakterisierung von Natronkalkglas, Borosilicatglas und von transparenter Spinellkeramik erforderlich. Die Versuche zur Visualisierung des Schädigungsfortschritts haben auch gezeigt, dass das Projektil in den meisten Fällen in bereits vorgeschädigtes Material eindringt. Daher ist es notwendig, ebenso Verfahren zur Charakterisierung von vorgeschädigtem Material zur Verfügung zu haben. Dabei ist insbesondere die Abhängigkeit der Festigkeit vom Grad der Schädigung von Interesse. Der Einsatz der dargestellten Visualisierungsverfahren und Messtechniken in Verbindung mit numerischen Analysen ermöglicht es, den Einfluss unterschiedlicher Parameter zu erfassen und zu analysieren. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung verbesserter transparenter Panzerungen.

 

Referenzen

[1] Alexander, C. S., Chhabildas, L. C., Reinhart, W. D., Templeton, D. W. (2008). Changes to the Shock Response of Fused Quartz Due to Glass Modification. International Journal of Impact Engineering, 35, 1376–1385.

[2] Holmquist, T. J., et al. (1995). High Strain Rate Properties and Constitutive Modeling of Glass. Proceedings of the 15th International Symposium on Ballistics, Jerusalem, Israel.