Endballistische Mechanik von transparenten Schutzwerkstoffen

Das Ernst-Mach-Institut untersucht, wie die Sicherheit der Sichtfensterbereiche von gepanzerten Fahrzeugen gegen ballistische Bedrohungen verbessert werden kann. Eine tiefergehende Analyse der dynamischen Impaktprozesse mittels numerischer Simulationen ermöglicht die Steigerung der Schutzwirkung von transparenten Schutzelementen. Zur Verbesserung der Prognosefähigkeit der Simulationsberechnungen wurden für die zugrundeliegenden Materialmodelle der im lagenartigen Aufbau eingesetzten Sprödwerkstoffe neue Charakterisierungsmethoden entwickelt. Diese Methoden ermöglichen erstmals eine experimentelle Bestimmung der notwendigen Modellparameter, welche die mit einem Projektilaufschlag einhergehenden Vorbelastungen mit berücksichtigen.

Die wachsende Bedrohung von gepanzerten Fahrzeugen durch ballistische Projektile und Blast führt zu stetig steigenden Anforderungen an die Schutzsysteme. Um die Insassen effektiv zu schützen, muss die Fahrzeugpanzerung beispielsweise gegen Mehrfachtreffer durch Infanteriemunition, Splitter, explosiv geformte Projektile und unkonventionelle Sprengvorrichtungen (IEDs: improvised explosive devices) ausgelegt sein. Die transparenten Bereiche werden bei Angriffen besonders ins Visier genommen und gehören bei leichten geschützten Fahrzeugen zu den kritischsten Komponenten der Panzerung. Das Ziel aktueller Arbeiten ist es daher, die Schutzwirkung der transparenten Panzerung zu erhöhen und damit das Leben der Insassen bestmöglich zu schützen. Die besonderen Herausforderungen bei der Auslegung des lagenartigen Aufbaus für transparente Schutzelemente bestehen in der Bestimmung von geeigneten Kombinationsfolgen von spröden und duktilen Materialien (Gläser, Keramiken, Klebstoffe, Kunststoffe) und der geeigneten Festlegung der einzelnen Lagendicken. Der komplexe Aufbau der transparenten Schutzsysteme erfordert für deren Auslegung und tiefergehende Analyse den Einsatz von numerischen Simulationen. Hierbei war die Prognosefähigkeit auf Basis aktueller konstitutiver Materialmodelle, die für eine beliebige Stelle im Material die Beziehung zwischen mechanischer Belastung und Veränderung der Materialeigenschaften beschreiben, noch nicht hinreichend, weil noch nicht geeignete Modellparameter für relevanten Werkstoffe vorlagen. Aus diesem Grund wurden am Fraunhofer EMI bestehende Charakterisierungsmethoden für spröde und insbesondere für transparente Schutzmaterialen weiterentwickelt. Die Ergebnisse werden für die Schutzwirkung bei Kleinkaliberbeschuss im Folgenden dargestellt. Der Fokus aktueller Arbeiten liegt hierbei auf Impaktszenarien gegen Laminate aus Kalk-Natron-Glas. Die hierbei entwickelten Methoden sind zukünftig auch auf andere spröde Materialien anwendbar.

© Fraunhofer EMI
Mit dem verbesserten Modell (links) konnte für die Prognose des Versagensverhaltens eine hohe Übereinstimmung mit den experimentellen Rissverläufen (rechts) erreicht werden. Zu sehen ist jeweils eine vertikale Schnittebene mittig durch das Projektil und das lagenartig aufgebaute transparente Schutzelement.

Wichtiger Prozess: Vorschädigung durch Stoßwellen

Beim ballistischen Impakt eines Projektils, beispielsweise panzerbrechender Munition (AP), werden zusätzlich zu dem Eindringen des Projektils Stoßwellen im Glas ausgelöst, die sich mit sehr hoher Geschwindigkeit ausbreiten und zu einer Vorschädigung des Glases im Bereich vor dem Projektil führen. Da folglich das Projektil bei spröden Schutzwerkstoffen in vorgeschädigtes Material eindringt, ist die Festigkeit des vorgeschädigten Materials entscheidend für den ballistischen Widerstand der Schutzanordnung. Zur Charakterisierung der Stoßwellenausbreitung wurde eine umfangreiche hochdynamische Beschussserie mit kleinen Glasproben (Glasplättchen mit 5 Millimetern Dicke und bis zu 50 Millimetern Durchmesser) durchgeführt, und bestehende Analysemethoden wurden verbessert. Bei diesen sogenannten Planar-Platten-Impakt-Versuchen (PPI) wird durch den flächigen Impakt einer Metallscheibe ein definierter, eindimensionaler Verzerrungszustand in der Glasprobe erzeugt. Durch sehr hohe Auftreffgeschwindigkeiten von bis zu 3000 Metern pro Sekunde werden im Glas Stoßwellen induziert, die zu einer Kompression mit hoher Verzerrungsrate führen. Der Zusammenhang zwischen dem aufgebrachten Druck und der dynamischen Volumenkompression des Glases (Kompressionskurve) wird dabei, ausgehend von einer laserinterferometrischen Geschwindigkeitsmessung an der Glasprobenrückseite, ermittelt. Hierbei wurde die Genauigkeit der Analyse durch die Entwicklung einer inkrementellen Auswertemethodik deutlich gegenüber gängigen Auswerteverfahren verbessert.


Eine neu entwickelte Charakterisierungsmethodik beinhaltet zudem den Einsatz von zwei High-Speed-Kameras, die den Impaktprozess simultan aus zwei Richtungen beobachten. Hierdurch lässt sich die Ausbreitung von Stoßwellen und Schädigungsfronten in der Glasprobe in bisher unerreichter Qualität visualisieren. Da das Glas gleichzeitig von der Seite und von der Rückseite beobachtet wird, können die Wellenfronten genauer lokalisiert und neue Kenntnisse über die Initiierungsbedingungen ermittelt werden.

© Fraunhofer EMI
Durchlichtaufnahmen von im Experiment dynamisch geschädigten zylinderförmigen Proben eines transparenten Schutzwerkstoffs, hier Glas: Mit steigender Impaktgeschwindigkeit vP nimmt die erzeugte Rissdichte signifikant zu.
© Fraunhofer EMI
Schematischer Aufbau eines transparenten Schutzelements mit Lagen einstellbarer Dicke von Schutzglas (gelb), Klebeschichten (grau) und einer Abschlussschicht (blau) zur Unterdrückung von Glassplitterflug.

Messung der Festigkeit von dynamisch vorgeschädigtem Glas

Die bisher verfügbaren Literaturdaten für die Festigkeit von vorgeschädigten Gläsern in Impaktszenarien waren für die Ermittlung von konstitutiven Modellparametern unzureichend. Denn bisherige Festigkeitsmessungen sind entweder an losem Quarzsand oder an thermisch geschockten Glasproben durchgeführt worden. In beiden Fällen ist der Grad der Schädigung nicht repräsentativ für das vorgeschädigte Material vor einem ballistischen Projektil. Aus diesem Grund wurde am Fraunhofer EMI eine neue Methodik entwickelt, bei der kleine Glaszylinder (mit 6 Millimetern Höhe und Durchmesser) dynamisch geschädigt werden und anschließend der Schädigungsgrad durch eine Röntgen-Computertomografie (CT) ermittelt wird. Nachfolgend kann für unterschiedliche Schädigungsgrade die Festigkeit der Glasproben in einem triaxialen Druckversuch gemessen werden.

Hierbei wurde der aktuelle Stand der Wissenschaft gleich in mehreren Punkten erweitert: Zum einen konnte erstmals die Scherfestigkeit von dynamisch vorgeschädigten Glasproben gemessen werden. Zum anderen wurde erstmalig die Festigkeit als Funktion des Schädigungsgrads ermittelt. Darüber hinaus konnte mit den neu gewonnenen Materialdaten ein aus der Literatur bekanntes Modell modifiziert und damit signifikant verbessert werden. Demonstriert wurde dies für ein repräsentatives ballistisches Szenario mit Starrkörperpenetration (AP-Munition) gegen ein transparentes Schutzelement mit 46 Millimetern Gesamtdicke.

Mit den prognosefähigen Modellen können zukünftig effizient die Einflüsse verschiedener Parameter untersucht werden (wie beispielsweise Material, Anzahl oder Dicken der einzelnen Laminatschichten), um neue Schutzanordnungen polyvalent auslegen zu können. Hierzu werden in weiterführenden Untersuchungen verschiedene Glassorten mit den neu entwickelten Methoden charakterisiert und die Konzepte in erweiterter Form auch auf transparente Keramiken angewendet.

© Fraunhofer EMI
Neuer, 6 Meter langer Laborbeschleuniger zur Erzeugung von dynamischer Schädigung in Glas oder Keramikzylindern. Der Impakt wird rechts durch zwei High-Speed-Kameras beobachtet.