Geschickt das Eis brechen – ein Beitrag zur Kernfusionsforschung

Aktuelle Prognosen gehen von einem weltweit steigenden Primärenergie- und Strombedarf aus. Um diesen zu decken und gleichzeitig den enormen Herausforderungen des Klimawandels zu begegnen, spielen CO2-neutrale regenerative Energiequellen wie Wind und Sonne eine wichtige Rolle. Doch auch Kernfusionskraftwerke könnten künftig ihren Beitrag zur Stromerzeugung für die Deckung der Grundlast leisten.

 

Bis zum ersten Kraftwerk dieser Art ist allerdings noch ein gewisser Weg zu gehen. Und auf diesem Weg befindet sich, im wahrsten Sinne des Wortes, das internationale Großforschungsprojekt ITER (International Thermonuclear Experimental Reactor). Der bislang weltweit größte Kernfusionsreaktor, der sich derzeit im südfranzösischen Cadarache im Aufbau befindet, soll erstmals zeigen, dass ein Nettoenergiegewinn bei der Verschmelzung von Wasserstoff zu Helium technisch möglich ist – also mit einem Prozess, der in ähnlicher Weise auch in der Sonne abläuft. Im Gegensatz zur Sonne werden hierzu aufgrund der höheren Effizienz die beiden Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium verwendet.

 

Dieser Energiegewinn speist sich aus der starken Kernkraft, die allerdings nur auf sehr kurzen Distanzen im Bereich der Atomkerne wirksam ist. Damit die Fusion überhaupt vonstattengeht, muss zunächst viel Energie aufgebracht werden, um die abstoßenden Kräfte der positiv geladenen Atomkerne zu überwinden: Der Wasserstoff wird dazu auf extrem hohe Temperaturen zwischen etwa 100 bis 200 Millionen Grad Celsius erhitzt, wobei er auch zusammengehalten werden muss. Da bei diesen Temperaturen der Wasserstoff nicht mehr als Gas, sondern als Plasma vorliegt, kann er mittels Magnetfeldern beeinflusst und so in einem ringförmigen Magnetfeldkäfig eingeschlossen werden (Tokamak-Prinzip). Ist dieses Plasma ausreichend dicht und lange genug bei hohen Temperaturen eingeschlossen (Lawson-Kriterium), kommen die Fusionsprozesse in Gang und setzen dabei enorme Mengen an Energie frei. Diese werden zum einen für die weitere Heizung des Plasmas genutzt und zum anderen nach außen an das Blanket, die innere Struktur des Plasmagefäßes, abgegeben: Ein Kühlmittel wird erhitzt, und der über einen Wärmetauscher erzeugte Dampf treibt mittels einer Turbine einen Generator zur Stromerzeugung an.

© ITER Organization
Schnittmodell des ITER-Tokamaks.

Eine Herausforderung besteht darin, das Plasma in einem kontrollierten Zustand zu halten. Sogenannte Plasmadisruptionen – plötzlich auftretende Störungen, die zu einem Verlust des plasmaeinschließenden Plasmastroms führen und mit einer hohen Energiefreisetzung einhergehen – können dabei hohe thermische und mechanische Lasten auf Reaktorkomponenten verursachen und zu Schädigungen führen. Dies hätte zusätzliche Wartungszeiten für den Tausch dieser Komponenten zur Folge. Daher wird für ITER ein System installiert, genannt Disruption Mitigation System (DMS), das die Auswirkungen solcher Disruptionen abmildern soll. Sein Funktionsprinzip besteht darin, innerhalb kürzester Zeit Fragmente aus beispielsweise gefrorenem Wasserstoff und Neon in das Plasma einzuschießen. Dazu werden zylindrische Pellets aus entsprechendemMaterial zuvor bei Temperaturen von minus 268 Grad Celsius eingefroren und mit Geschwindigkeiten von bis zu 1800 Kilometern pro Stunde auf eine schräg zur Flugrichtung stehende Prallplatte (Shattering Unit) geschossen, an der sie durch die Wucht des Aufpralls fragmentieren. Die Wirksamkeit des DMS hängt von der optimalen Größen- und Geschwindigkeitsverteilung der Fragmente ab. Daher ist es wichtig zu wissen, wie die Aufprallbedingungen die Fragmentierungseigenschaften beeinflussen. Die ITER-DMS-Taskforce hat hierfür eigens ein Programm zur Charakterisierung und zur experimentellen Untersuchung der Fragmentierung aufgelegt.

 

Als Teil dieses Programms entwickelt das Fraunhofer EMI im Rahmen eines laufenden Forschungsprojekts numerische Modelle und Computercodes zur Simulation und Analyse des komplexen Fragmentierungsprozesses. Die oben erwähnten Experimente dienen unter anderem der Kalibrierung und Validierung der entwickelten Modelle und Verfahren. Mithilfe der validierten Modelle sollen dann die experimentell ermittelte Datenbasis deutlich erweitert und Vorhersagen für die Fragmentgrößenverteilung bei unterschiedlichen Randbedingungen gemacht werden. Die Ziele hierbei sind eine Optimierung des Designs der Shattering Unit und die Ableitung von Richtlinien für optimierte Aufprallbedingungen, um die gewünschten Fragmentierungseigenschaften zu erhalten. Oder etwas salopp formuliert: Es geht um die Beantwortung der Frage, wie man am geschicktesten das Eis bricht.

© Fraunhofer EMI
Fragmentwolke aus einem Laborimpaktexperiment (links, ASDEX Upgrade SPI project of IPP Garching (MPG) and ITER Organization) und korrespondierender Simulation des Fraunhofer EMI mit der Software MD-Cube (rechts).